Mythen und Tabus in den deutsch-französischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts

Mythen und Tabus in den deutsch-französischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts

Veranstalter
Université Jean Monnet, Saint-Étienne (UJM); Universität Wuppertal
Veranstaltungsort
Université Jean Monnet, Saint-Étienne
Ort
Saint-Étienne, Frankreich
Land
France
Vom - Bis
19.11.2009 - 20.11.2009
Deadline
20.06.2009
Website
Von
Prof. Dr. Ulrich Pfeil

Frankreich und Deutschland standen sich seit Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend in einem starren These-Antithese-Modell gegenüber. Beide hatten sich die eigene Geschichte passend gemacht und dazu das vorhandene Bild- und Zeichenmaterial benutzt und modelliert. Die Abgrenzung zum Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins gehörte zu den identitätsstiftenden Faktoren beider Nationen und beschleunigte im deutschen Fall den Nationsbildungsprozess, der in die Kaiserkrönung im Spiegelsaal von Versailles mündete. Auch in den Jahrzehnten danach wurde das deutsch-französische Verhältnis immer wieder durch reale und konstruierte Gegensätze, Konflikte, Kriege und Zerstörung geprägt, so dass sich in der Wahrnehmung des Anderen das Bild vom „Erbfeind“ bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts auf beiden Seiten des Rheins verfestigt hatte und die Gegensätze zwischen beiden Ländern unauflöslich schienen.

Diese mentalen Barrieren fanden ihren Niederschlag auch in der Historiographie der beiden Länder, die über Jahrzehnte von nationalen Gesichtspunkten geprägt blieb, so dass es nach 1945 eines wechselseitigen Lernprozesses bedurfte, um sich gemeinsam an die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte zu machen. Der deutsch-französische Gegensatz wurde bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts folglich nicht nur in kriegerscher Form ausgetragen, sondern erfuhr seine Radikalisierung immer auch durch den Einsatz antagonistischer Deutungsmuster und Erzählungen. Im 19. Jahrhundert kam dabei konkurrierenden Geschichtskonstruktionen eine besondere Rolle zu, die den Kohäsionskern beider Nationen in Form von narrativen Variationen, ikonischer Verdichtung und ritueller Inszenierung stärken sollten. Von Überlegenheitsvorstellungen und Dominanzansprüchen geprägte Feindbilder und politische Mythen sollten auf beiden Seiten ein kollektives Distinktionsbedürfnis befriedigen, mit denen die Ansprüche und das Selbstbewusstsein der Gegenseite in Frage gestellt wurden. In dieser Hinsicht gehörten politische Mythen zu den mentalen Waffen, die durch ihre direkte emotionale Wirkung auf die Imaginationskraft des Menschen das deutsch-französische Verhältnis immer wieder anheizten.

Dass eine deutsch-französische Verständigung im Jahre 1945 unmöglich erschien, lag neben den politischen und sozialen Realitäten nicht zuletzt auch an den inneren Strukturen von Mythen, die ihre Dauerhaftigkeit dem ihnen eigenen Referenzsystem verdanken, das ihnen Dauerhaftigkeit im menschlichen Bewusstsein verleiht. Wenn Mythen als handlungsleitender Faktor treibende Kraft für Veränderungen sein können, stellt sich für die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 zum einen die Frage, ob die handelnde Akteure infolge der fortgesetzten Gegensätze in der Vergangenheit überhaupt auf Mythen zurückgreifen konnten und wollten, um den im Zeichen von Versöhnung und Verständigung stehenden Annäherungsprozess symbolisch zu unterfüttern.

Dass Zeitgenossen und Politiker übernatürliche Erklärungen heranzogen („Wunder unserer Zeit“), um die Wandlungen in den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 zu erklären, spricht für die Tendenz, der bilateralen Annäherung mythische Dimensionen zu geben. Zum anderen ist zu klären, ob neue Mythen geschaffen bzw. bestehende umgeschrieben wurden, um die deutsch-französischen Beziehungen auf eine neue emotionale Grundlage zu stellen.

Wenn wir den „Mythos“ in seiner ganz allgemeinen Form als ein Erklärungsmuster mit großer öffentlicher Ausstrahlung bzw. als ein legitimierendes Narrativ für einen Soll-Zustand definieren, dann gilt es auch die „Erfolgsgeschichte“ der deutsch-französischen Annäherung zu hinterfragen (vom „Erbfeind“ zum „Erbfreund“), die im politischen Diskurs seit den 1970er Jahren Begriffe durch Begriffe wie „Tandem“, „Paar“ und „Motor für Europa“ charakterisiert wird.

Weiterhin wird zu klären sein, welchen Einfluss der Eintritt neuer Generationen in die deutsch-französischen Beziehungen auf den politischen Mythenhaushalt hatte, können politische Mythen doch nur zum Tragen kommen, wenn sie gemeinsame gesellschaftliche Bezugspunkte und Erfahrungsräume ansprechen.

Heute leben wir in einem Zeitalter, in dem Tabubrüche und Enttabuisierungen Kernbestandteil des öffentlichen Diskurses und des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind. Die Geschichtswissenschaft kann sich jedoch nicht mit vereinfachenden Erklärungen und Nachfrageverboten zufrieden geben, sondern muss Mythen und Tabus entschleiern, um lange nicht hinterfragte Selbst- und Fremdbilder zu entschleiern. Welche Mythen und Tabus haben das deutsch-französische Verhältnis beeinflusst? Wer waren ihre Träger? Zu welchem Zweck wurden sie verbreitet? Welche Auswirkungen hatten sie auf das bilaterale Verhältnis? Welche Schlussfolgerungen lassen sich insgesamt für die deutsch-französischen Beziehungen ziehen?

Die einzelnen Beiträge dieser Veranstaltung sollen die verschiedenen Phasen der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert reflektieren und können auch die Aktualität einbeziehen.

Wir möchten um Vorschläge für diese Tagung bis zum 20.6.2009 bitten. Die Bewerbungen sollen einen kurzen tabellarischen Lebenslauf und eine Inhaltsskizze von 2500 Zeichen enthalten. Comité scientifique: Michel Depayre (UJM), Jacqueline Bayon (UJM), Ulrich Pfeil (UJM), Corine Defrance (CNRS-IRICE), Franz Knipping (Wuppertal). Kosten für Anreise und Unterbringung werden nach Maßgabe der eingeworbenen Drittmittel erstattet. Bitte senden Sie Ihre Vorschläge an Prof. Dr. Ulrich Pfeil (upfeil@orange.fr).

Programm

Kontakt

Pfeil Ulrich
Université Jean Monnet de Saint-Étienne
35 rue du 11 novembre; 42023 Saint-Étienne cédex 02
upfeil@orange.fr


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